Montag, 23. Januar 2012

„Migranten als Käuferschicht“ oder „Das BMW-Logo am Grabstein“

„Kaum zu glauben, aber noch immer verzichtet die österreichische Wirtschaft jährlich auf eine Summe von 20 Milliarden Euro. Dies beziffert exakt die Kaufkraft der rund 1,6 Millionen in Österreich lebenden Menschen mit Migrationshintergrund.“ Dieses Fazit zog Manuel Bräuhofer von der Firma „Brainworker“ beim Clubabend des Marketing Clubs Österreich (MCÖ) Mitte Jänner 2012 zum Thema „Ethnomarketing in Österreich“.

Was so plakativ gesagt eher nicht stimmen kann, denn die beschriebene Zielgruppe hortet wohl kaum Geld in dieser Menge, sondern gibt Einkünfte und Erspartes schon jetzt aus. Allerdings könnten Firmen mittels Ethnomarketing diese Konsumenten konkreter ansprechen, denn die Migranten werden von der Werbewirtschaft vernachlässigt. Und ihre Zahl entspricht immerhin in etwa der Bevölkerung von Niederösterreich. Einige Zahlen: Allein aus dem früheren Jugoslawien stammen rund 19 % der in Österreich lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, das sind rund 740.000 Personen. Aus dem Herkunftsland Türkei leben rund 300.000 Konsumenten im Land. 35 Prozent der „neuen Österreicher“ entfallen auf die Bundeshauptstadt, davon sind rund 180.000 Muslime.

Um die Migranten – dazu zählt rund jeder fünfte Einwohner in Österreich - als Konsumenten zu gewinnen, bedarf es laut Bräuhofer weit mehr als der bloßen Übersetzung von Werbeanzeigen. Die spezifische Anpassung des Marketing-Mix an eine ethnische Community sollte aber auch nicht als Sonderbehandlung einer bestimmten Zielgruppe angesehen werden.

Die Geschäftsführung müsse bei allen Ethnomarketing-Maßnahmen dahinter stehen und die Mitarbeiter entsprechende Schulungen erfahren sowie für den Umgang mit neuen Völkergruppen sensibilisiert werden. Ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch und eine Supervision für die Beschäftigten zählen zu den nötigen Bestandteilen.
Es gehe darum, auf kulturelle und sprachliche Unterschiede einzugehen und dabei Produkte und Kommunikation zu optimieren. Zahlreiche Gründe sprechen dafür: Die überwiegend junge Zielgruppe der Migranten ist äußerst loyal, besitzt ein ausgeprägtes Prestigedenken und eine hohe Markentreue. Der Konsum von Markenartikel spielt eine wichtige Rolle, die Statussymbole gelten als Zeichen dafür, es in der neuen Heimat „geschafft“ zu haben. „Die Markentreue geht bis zum BMW-Logo auf Grabsteinen am Wiener Zentralfriedhof“ (Bräuhofer). Jeder 10. Mercedes in Deutschland wird laut Untersuchungen übrigens von einem Türken gefahren, aber nur jeder 36. von einem Deutschen.
Ein bedeutender Aspekt ist auch die überdurchschnittliche Weiterempfehlungsbereitschaft dieser Zielgruppe, die sich glaubhafte Unternehmen zu nutzen machen können.

Eine Ethnomarketing-Strategie zu fahren sollte allerdings niemals als ein kurzzeitiges Marketingprojekt abgetan werden. Vielmehr ist Ethnomarketing als Teil der gesamten Unternehmensphilosophie anzusehen. Neben der externen spielt vor allem die interne Kommunikation eine bedeutende Rolle. Bei jedem Mitarbeiter geht es dabei um Sensibilisierung, die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches sowie die Förderung interkultureller Kompetenzen.

Neben Manuel Bräuhofer waren drei Marketingverantwortliche im Bereich Ethnomarketing am Podium. „It’s not charity, it’s business!“ stellte Werner Schediwy, Marketingleiter der Raiffeisenlandesbank NÖ-Wien, im Voraus klar. Die „Beraterbank“ hat vor rund drei Jahren mit ihren Bemühungen im Bereich Ethnomarketing begonnen. „Es ist ein ständiges Lernen und Weiterentwickeln. Insgesamt sorgen 35 mehrsprachige Mitarbeiter in zehn Filialen für eine bessere Kommunikation und ein besseres Verständnis bei den doch sehr erklärungsbedürftigen Finanzprodukten.“

Auch worauf sich Mitarbeiter einstellen müssen, schilderte Schediwy an einem Beispiel. Potenzielle türkische Kunden kämen oft mit Verwandtschaft in die Filiale. Dann werde einige Zeit erst nur über die eigene Familie erzählt und erwartet, dass auch die Mitarbeiter von der ihrer Familie erzählen. Erst nach dieser Phase, die durchaus eine Viertelstunde oder länger dauern kann, seien sie bereit, konkret über geschäftliche Fakten wie beispielsweise eine Kontoeröffnung zu sprechen. Dafür sei es durchaus möglich, dass der gewonnene Kunde bereits am Nachmittag mit einem anderen, neuen Interessenten in der Filiale stehe.

Als ein erfolgreiches Ethno-Produkt bezeichnete Schediwy den sogenannte „Hochzeitskredit“. Dieser dient für türkische Familien der Vorfinanzierung der äußerst aufwendigen Hochzeitsfeiern, bei denen sich bis zu 1.500 Gäste in eigens dafür angemieteten Zelten vergnügen. Raiffeisen ist bei solchen Veranstaltungen als Finanzierer dann mit dem Logo auf dem Geschirr sowie Werbung beim Event präsent.

„Man muss natürlich auf die andere Emotionalität und Denkweise dieser Menschen eingehen“, sagt Schediwy: „Es ist beispielsweise nur sehr schwer möglich, einem Kunden türkischer Herkunft das Bausparen zu erklären, weil es ein solches Modell in der Türkei eben nicht gibt“. Auch bei den klassischen Werbemaßnahmen geht Raiffeisen im Ethnomarketing andere Wege: So werden in den TV-Spots in den einschlägigen Kanälen (es gibt rund 90 Ethno-Medien, von denen die Mehrheit laut Bräuhofer in „türkischer“ Hand sind) keine Schauspieler, sondern es werden die realen Mitarbeiter der Bank bei der Arbeit gezeigt. Dasselbe gilt auch für Inserate und auf Plakaten – auch dort lachen echte Raika-Mitarbeiter aus den Sujets.

Wie es die Telekomfirma Orange Austria geschafft hat „die Grenzen zu öffnen“, schilderte Marketingleiterin Elisabeth Rettl. Mit speziellen Tarifmodellen und Slogans wie „Merhaba Türkei“ oder „Zusammen sind wir mehr“ habe Orange erfolgreich den Versuch gestartet, bei ihren Zielgruppen den Wunsch nach spezieller Anerkennung zu erfüllen. Bei diesen Paketen hat Orange jeweils um die 100.000 Kunden erreichen können. Begonnen hat man damit bereits Mitte des letzten Jahrzehnts.

Dass das Tourismus-Unternehmen Blaguss sich bei den Busfahrten Richtung Osteuropa am Markt als führendes Unternehmen etablieren konnte, beschrieb Darko Selenic, Leiter der internationalen Linien bei Blaguss-Reisen. „Seit jeher fahren Gastarbeiter mit Blaguss-Bussen zu ihren Familien nach Hause. Mit gut strukturierten und qualitätsvollen Angeboten hat Blaguss von Anfang an richtig auf die Wünsche und Anforderungen der Migranten reagiert. Das Ergebnis ist eine hervorragende Reputation, die die Angebote zum Selbstläufer machen.“ Der Service des Unternehmens geht soweit, für muslimische und christliche Kunden getrennte Busse auf bestimmten Routen einzusetzen. Außerdem stammen viele Chauffeure aus den angefahrenen Zielstädten.

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